Black Box Logistik – Wenn KI zur Blackout-Gefahr wird

Die Logistik ist längst zu einem datengetriebenen Hochleistungsgeflecht geworden. Täglich werden Millionen von Entscheidungen automatisiert getroffen – von der Routenplanung über Lagerbewegungen bis hin zur Kapazitätsvergabe. Möglich macht das Künstliche Intelligenz: Sie analysiert historische Daten, erkennt Muster, berechnet Wahrscheinlichkeiten – und liefert Handlungsempfehlungen in Echtzeit.

Holger Biernat, Barrus Consulting GmbH

Holger Biernat, Barrus Consulting GmbH

Doch während die operative Effizienz steigt, nimmt ein anderes Risiko zu: Die Systeme werden intransparent – Entscheidungen entstehen in der Black Box. Was auf den ersten Blick wie ein technisches Detail wirkt, wird schnell zur operativen, rechtlichen und strategischen Bedrohung.

Vom Effizienztreiber zum Risikofaktor

Die klassische Erfolgsformel der KI klingt verführerisch einfach: „Mehr Daten + leistungsfähige Algorithmen = bessere Entscheidungen“. Und ja – wenn alles funktioniert, spart KI Zeit, Geld und Ressourcen. Doch was passiert, wenn ein System eine Entscheidung trifft, die nicht nur unverständlich, sondern schlicht falsch ist?

Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Logistikdienstleister wundert sich über wiederkehrende Verspätungen auf einer bestimmten Route. Die Analyse ergibt: Das KI-System hat Transporte systematisch über eine längere Strecke mit höherem Verkehrsaufkommen geleitet. Die Begründung? Laut Modell sei das die „wahrscheinlich zuverlässigere Route“ gewesen. Nur: Diese Einschätzung beruhte auf veralteten Wetterdaten und einer fehlerhaften Klassifizierung von Baustellen als Stauumgehung.

Solche Fehlentscheidungen sind keine Seltenheit. Und sie haben Folgen: Lieferschäden, Mehrkosten, Kundenunzufriedenheit – bis hin zum Vertragsbruch.

Vier Risiken, die viele unterschätzen

1. Operative Risiken:
Fehlerhafte Entscheidungen in der Lieferkette entfalten oft eine Kettenreaktion: Ein verspätetes Teil führt zu Stillstand in der Produktion, verpasstes Zeitfenster beim Kunden verursacht Pönale, verplante Kapazitäten lassen sich nicht kurzfristig kompensieren. Besonders kritisch: In Just-in-Time- oder Frischelogistik zählt jede Minute – und Fehler lassen sich oft nicht mehr „nachsteuern“.

2. Reputationsrisiken:
Die Zeiten, in denen man sich hinter der Technik verstecken konnte, sind vorbei. Kunden, Partner und Behörden erwarten nachvollziehbare, belegbare Entscheidungen – auch (und gerade) wenn sie automatisiert getroffen wurden. Wer dann sagen muss: „Das hat das System so entschieden, wir wissen auch nicht warum“, hat ein echtes Glaubwürdigkeitsproblem.

3. Haftungsrisiken:
Mit dem AI Act der EU werden viele KI-Anwendungen in der Logistik – etwa in der Kapazitätsplanung, Tourenoptimierung oder Lieferantenauswahl – zu regulierten Hochrisiko-Systemen. Das heißt: Unternehmen müssen lückenlos dokumentieren, wie ein Modell arbeitet, wie es trainiert wurde und wie seine Entscheidungen nachvollzogen werden können. Wird diese Pflicht verletzt, drohen Bußgelder von bis zu 6 % des weltweiten Jahresumsatzes – vergleichbar mit der DSGVO.

4. Strategische Risiken:
Wer seine eigenen Systeme nicht mehr versteht, verliert langfristig die Steuerungshoheit. Entscheidungen, die früher im Controlling oder in der Disposition lagen, wandern unkontrolliert in externe Algorithmen. Kritisch wird das insbesondere bei ausgelagerten KI-Diensten, bei denen der Anbieter keinen Einblick in die Datenbasis oder die Modelllogik gewährt. Unternehmen riskieren, von „ihren“ Systemen überrascht zu werden – im schlimmsten Fall im Blindflug.

Der blinde Fleck: Warum viele das Problem unterschätzen

In vielen Logistikunternehmen fehlt das Bewusstsein für die Tiefe des Problems. Das liegt auch daran, dass KI-Modelle oft als „Feature“ in bestehender Software mitgeliefert werden – ohne dass dokumentiert ist, was genau dort passiert. Die Schnittstelle ist funktional – aber nicht transparent.

Hinzu kommt: In der Praxis fehlt häufig das nötige Fachwissen, um die Risiken zu bewerten. Fachabteilungen verlassen sich auf die IT, die IT auf den Softwareanbieter – und am Ende fühlt sich niemand wirklich verantwortlich. Doch spätestens wenn etwas schiefläuft, liegt die Verantwortung klar beim Betreiber – also beim Unternehmen selbst.

Erklärbare KI – was bedeutet das konkret?

Um das Black Box-Problem zu lösen, braucht es erklärbare Modelle. Drei zentrale Konzepte spielen hier eine Rolle:

  • SHAP (SHapley Additive exPlanations): Diese Methode zeigt auf, welchen Einfluss einzelne Faktoren auf eine bestimmte Entscheidung hatten. Etwa: Warum wurde Lieferant A bevorzugt – und nicht B?
  • LIME (Local Interpretable Model-agnostic Explanations): Damit lassen sich Einzelfallentscheidungen punktuell analysieren. Praktisch z.B. zur Kontrolle, warum ein Modell einen bestimmten Weg als optimal bewertet hat.
  • Model Cards: Diese standardisierten Beschreibungen dokumentieren, wie ein Modell funktioniert, auf welchen Daten es basiert, welche Schwächen es hat und in welchem Kontext es eingesetzt werden sollte.

Solche Instrumente schaffen Transparenz – nicht nur für Techniker, sondern auch für Fachanwender, Auditoren und externe Partner.

5 Schritte zu mehr Kontrolle

1. Transparenz fordern – bei jedem Modell:
Kein Einsatz ohne Nachvollziehbarkeit. Egal ob eigenentwickelte KI oder Third-Party-Modell: Nur wenn Sie verstehen, wie ein Modell arbeitet, können Sie es verantwortungsvoll einsetzen.

2. Kompetenzen aufbauen – fachlich und technisch:
KI ist kein IT-Thema, sondern ein Management-Thema. Fachabteilungen müssen in der Lage sein, Entscheidungen zu hinterfragen – und die IT braucht ein Grundverständnis von Geschäftslogik. Gemeinsames Verständnis schafft gemeinsame Verantwortung.

3. Notfallpläne etablieren:
Was passiert, wenn das Modell plötzlich falsche Entscheidungen trifft? Wer greift ein – und wie schnell? Planen Sie manuelle Übersteuerungsprozesse, insbesondere in kritischen Anwendungen wie Tourenplanung oder Lagersteuerung.

4. Risikoklassen definieren:
Nicht jede KI braucht die gleiche Kontrolle. Aber bei geschäftskritischen Entscheidungen – etwa bei der Lieferantenauswahl, Preisgestaltung oder bei zeitkritischen Touren – ist erklärbare KI Pflicht. Für einfache Prognosen (z. B. Nachfrageentwicklung) reicht unter Umständen eine niedrigere Transparenzstufe.

5. Den AI Act jetzt umsetzen – nicht erst 2026:
Die Umsetzung der EU-Verordnung wird Zeit, Ressourcen und Know-how erfordern. Wer erst reagiert, wenn sie in Kraft tritt, wird kaum rechtzeitig alle Anforderungen erfüllen – und riskiert Bußgelder, Projektstopps oder Imageverluste. Wer jetzt beginnt, verschafft sich nicht nur Rechtssicherheit, sondern auch einen strategischen Vorteil.

Fazit: KI in der Logistik braucht Führung – nicht nur Rechenleistung

Die Logistikbranche ist auf Effizienz getrimmt. Doch mit wachsender Automatisierung wächst auch das Risiko, dass Entscheidungen unkontrollierbar werden. Wer blind auf KI vertraut, ohne sie zu verstehen, gefährdet sein operatives Geschäft – und langfristig seine Wettbewerbsfähigkeit.

Transparenz ist keine Option, sondern eine Voraussetzung für resiliente Logistik. Wer heute in erklärbare Systeme, eigene Kompetenz und proaktive Governance investiert, schützt nicht nur sich selbst vor regulatorischen und operativen Risiken – sondern stärkt vor allem das, was in der Logistik am meisten zählt:

- Verlässlichkeit.

 

Zur Person:

Holger Biernat M.A. ist Geschäftsführer der BARRUS Consulting GmbH (https://www.barrus.de). Als Master of Finance and Banking berät er Unternehmen in Krisen in Sachen Strategie, Digitalisierung und KI.