Der Beitrag des Seeverkehrs und der Kurzstreckenseeverkehre zur Nachhaltigkeit

Kurt Bodewig, Europakoordinator für die TEN-V-Meeresautobahnen und ehemaliger Bundesminister für Verkehr, Infrastruktur und Wohnungsbau, Deutschland

Der Seeverkehrssektor ist der global bedeutendste Verkehrssektor. Ungefähr 80 % aller Güter werden auf dem Seeweg transportiert und gemessen an Tonnen pro gefahrenem Kilometer ist die Schifffahrt der effizienteste und kostengünstigste Transportweg (1). Das transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V) besteht hier aus einem großen Netz, nämlich aus 335 Häfen. EU-eigene Schiffe machen 41 % der weltweiten Handelsflotte und des Handels auf allen Ozeanen aus und bedienen Märkte auf der ganzen Welt (2).

Prof. Kurt Bodewig (Quelle: Prof. Kurt Bodewig)

Darüber hinaus wird der europäische Seeverkehrssektor auch als zentral angesehen, um einen effizienten Handel in und aus der Europäischen Union zu gewährleisten und das Festland mit den randperipheren Regionen und Inseln Europas zu verbinden. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie sich die anhaltende Pandemie speziell auf die Wirtschaft und den maritimen Sektor auswirkt und wo das Potenzial für eine wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie liegen könnte.

Der Welthandel ist heute stärker geschrumpft als während der Finanzkrise in den Jahren 2008-2009. Gleichzeitig bildet der Seeverkehrssektor einen großen Teil des innereuropäischen Verkehrssystems, der die Handelsströme aus landgestützten Streckennetzen erleichtert und umverteilt und gleichzeitig zu den Bemühungen beiträgt, die externen Umwelt- und Sozialkosten des Verkehrs insgesamt zu senken.

Auf den Kurzstreckenseeverkehr entfallen rund 65 % der gesamten Fracht, die durch EU-Häfen befördert wird, oder 2,5 Milliarden Tonnen Fracht und mehr als 400 Millionen Passagiere, die jedes Jahr aus europäischen Häfen ein- oder aussteigen (3). Während die längerfristigen Auswirkungen des COVID-19-Ausbruchs noch nicht vollständig erfasst sind, unterscheiden sich die unmittelbaren Herausforderungen je nach Region und Segment des Seeverkehrs, z. B. Containertransport, Massenguttransport oder Tanker. Es hängt auch davon ab, ob der Transport innerhalb der EU oder international ist.

Die Zahl der Schiffsankünfte stieg im Februar 2021 in Europa im Vergleich zum Vorjahresmonat um 1 %. Die am stärksten betroffenen Sektoren waren Kreuzfahrtschiffe, Fahrgastschiffe, Kühlfrachtschiffe und Fahrzeugträger. Unterdessen stieg die Zahl der Ro-Ro-Fahrgastschiffe um 11 % (4). Folglich ist einer der Punkte, die hervorgehoben werden sollten, die Förderung des Kurzstreckenseeverkehrs in der EU. Die Nutzung der Kurzstreckenseeverkehre nimmt bereits spürbar und stetig zu. Eine schnellere Ausweitung und Verstärkung des Kurzstreckenseeverkehrs könnte einen wesentlichen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der EU-Transport- und Logistikkette leisten. Somit ist der Kurzstreckenseeverkehr ein wesentliches Glied in den europäischen Logistikketten. Darüber hinaus erhöht sie die Widerstandsfähigkeit des Verkehrssektors, indem sie die Zahl nachhaltigerer Verkehrs- und Logistiklösungen erhöht. Mehr Aufmerksamkeit ist für den Kurzstreckenseeverkehr erforderlich. Gleichzeitig ist es wichtig, die Verlagerung des Verkehrs vom Straßenverkehr auf den Kurzstreckenseeverkehr zu verstärken. Es ist auch ein entscheidendes Thema und im Hinblick auf die bevorstehende Überarbeitung der TEN-V-Verordnung von großer Bedeutung.

Neben dem Kurzstreckenseeverkehr hat uns die Pandemie gezeigt, dass Widerstandsfähigkeit, die Resilienz, vielfältig sein kann. Resilienz gegen den Klimawandel ist nicht die einzige Art von Resilienz, die wir entwickeln müssen Die Verlagerung vom Straßen- auf den Seeverkehr muss zunehmen, und sie könnte einer der treibenden Faktoren sein, um beispielsweise den Kurzstreckenseeverkehr attraktiver zu machen. Die Wirtschaftlichkeit, die geringeren CO2-Emissionen und die Verringerung der Verkehrsüberlastung sind nur einige Beispiele für die Vorteile des Kurzstreckenseeverkehrs.

Wie bereits erwähnt, besteht jedoch auch die Notwendigkeit, Resilienz gegen störende Veränderungen unserer Logistikketten und der industriellen Produktion zu entwickeln, wie wir nach dem Ausbruch des Virus im vergangenen Jahr gelernt haben. In einem kürzlich veranstalteten Forum zu den Motorways of the Sea (den sog. Meeresautobahnen) wurde als einer von vielen wichtigen Punkten angesprochen, dass der grenzüberschreitende Charakter der Häfen besser anerkannt werden muss und dass Häfen den Handel in die und aus der ganzen Welt bringen. Häfen sind auch Energiedrehkreuze und sie werden als Punkte für die Erzeugung, Lieferung und den Import erneuerbarer Energien in Zukunft noch wichtiger werden. Dies kann zu einer besseren Nachhaltigkeit des gesamten Verkehrssektors beitragen. Ein weiteres Beispiel ist die Einrichtung eines Schwefelemissionskontrollgebiets (SECA: Sulphur Emission Control Area) im Mittelmeer, das einen Schritt in die richtige Richtung darstellt, um die Nachhaltigkeit des Sektors zu verbessern und den Kurzstreckenseeverkehr zu einem attraktiveren Verkehrsträger zu machen.

Ähnliche Maßnahmen wurden in anderen Meeresregionen, wie z. B. in der Ostsee, durchgeführt. Strengere Schwefelgrenzwerte haben die Schwefeldioxidkonzentrationen mehr als halbiert und den Menschen in Küstenregionen und Häfen gesundheitliche Vorteile gebracht, während die wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Sektor insgesamt minimal blieben (5). Daher ist davon auszugehen, dass ähnliche Schwefelemissionskontrollgebiete im Mittelmeer als praktikable Maßnahmen zur Verbesserung der Nachhaltigkeit dienen könnten.

Die Krise war eine Herausforderung für die globalen und europäischen Lieferketten. Dies hat zu Forderungen nach mehr Autonomie für unsere Produktion geführt. Aus der Krise können viele Lehren gezogen werden und Unternehmen überarbeiten bereits ihre Risikomanagementstrategien. Die europäische Handelspolitik kann helfen, indem sie die Diversifizierung der Versorgungsquellen erleichtert, um autonomer zu werden. Zum Beispiel ist die neue "offene strategische Autonomie" der EU, in einer Zeit des wirtschaftlichen Wandels und der geopolitischen Instabilität, ein Kompass für die Handelspolitik der EU.

Der Welthandel und seine integrierten Wertschöpfungsketten werden ein grundlegender Wachstumsmotor bleiben und für die Erholung Europas von entscheidender Bedeutung sein. Die Erholung wird wahrscheinlich lange dauern, muss aber unmittelbar beginnen. Für die Erholung Europas werden mehrere Finanzinstrumente eingesetzt. Das Programm „nächste Generation EU“ ist nur ein Beispiel, andere sind die Instrumente der Fazilität für Wiederaufbau und Resilienz, Horizont Europa und InvestEU. In diesem Zusammenhang muss auch der Green Deal und die Fazilität "Connecting Europe" erwähnt werden.

Die Fazilität für Wiederaufbau und Resilienz bietet die Möglichkeit für eine stärker gelenkte Unterstützung der Häfen und des Seeverkehrssektors. Der maritime Sektor kann ein Teil der Lösung innerhalb der genannten Instrumente sein. Investitionen in Häfen, um sie zu Industrieclustern oder Energiedrehkreuzen zu entwickeln, werden sowohl die Nachhaltigkeit, als auch die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten erhöhen. Dies kann sich dann auch positiv auf den Kurzstreckenseeverkehr auswirken.

Belastbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit gehen Hand in Hand. Um unsere europäische Widerstandsfähigkeit zu erhalten, müssen wir auch darüber nachdenken, wie die europäischen Hersteller angesichts der zunehmenden Konkurrenz aus Asien wettbewerbsfähig bleiben können. Wir werden uns auch mit diesem Thema befassen müssen, um die vor uns liegende Erholung der europäischen Wirtschaft zu unterstützen. Dazu gehört auch die Digitalisierung des Verkehrssektors insgesamt und speziell im maritimen Sektor.

In der nächsten neuen Fassung des Berichts "Shaping the future policy of the European Maritime Space" (Motorways of the Sea Detailed Implementation Plan of the European Coordinator) (6)  ist es wichtig, auch die Resilienz einzubeziehen. Es muss auf die folgenden Themen eingegangen werden:

  • Förderung von mehr Seeverbindungen zur Verbesserung der Widerstandsfähigkeit. Wie bereits erwähnt, spielt der Kurzstreckenseeverkehr eine Schlüsselrolle bei der Sicherstellung der Transportströme von Gütern und Personen während der Pandemie. Die Entwicklung stärkerer Kurzstreckenseeverkehrsverbindungen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten und den Kernnetzkorridoren ist von wesentlicher Bedeutung. Mehr Anschlüsse werden mehr Alternativen bieten, wenn bestimmte Segmente des TEN-V in Zukunft betroffen wären.
  • Digitalisierung des maritimen Sektors. Wie bereits erwähnt, hat uns die Pandemie gezeigt, welche Vorteile es hat, dringenden Bedürfnissen gerecht zu werden und gleichzeitig die menschliche Interaktion zu minimieren.
  • Ausstattung der Häfen mit der richtigen Infrastruktur, um sicherzustellen, dass sie den Betrieb kritischer Dienste in künftigen Krisen aufrechterhalten können. Das ist sehr wichtig. Auch Infrastrukturen, die sich der Anpassung an den Klimawandel widmen, wie Wellenbrecher oder Deiche, sind in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung.
  • Das europäische Verkehrssystem hängt derzeit von der Verwendung fossiler Brennstoffe ab. Es ist von grundlegender Bedeutung, unseren Energieverbrauch zu diversifizieren, indem die Verwendung alternativer Kraftstoffe an Bord von Schiffen und in Häfen gefördert wird. Die Verringerung der Treibhausgasemissionen aus dem maritimen Sektor wird auch seine Auswirkungen auf die Umwelt verringern.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Seehäfen der Schlüssel für unsere internationale Konnektivität, für die europäische Wirtschaft und für die europäischen Regionen sind. Die europäischen Häfen sind wichtige Tore, die Europa mit dem Rest der Welt verbinden. Die Entwicklung der Häfen ist deshalb von wesentlicher Bedeutung, um zum Erreichen der Ziele des Europäischen Green Deals und der Strategie für nachhaltige und intelligente Mobilität (SSMS: Sustainable & Smart Mobility Strategy) beizutragen.

Die Attraktivität der Seeverkehrsketten hängt jedoch von der effizienten Integration des See- und des Hinterlandverkehrs ab. Die Motorways of the Sea sind sehr gut aufgestellt, um die europäische Schifffahrtsindustrie und die europäischen Häfen zu unterstützen. Um die Multimodalität nahtlos zu gewährleisten, müssen wir die derzeitigen Hemmnisse durch Komplexität, Starrheit und Fragmentierung der Prozesse, Verfahren und des Informationsflusses im Zusammenhang mit dem Frachtbetrieb der Häfen überwinden.

Häfen haben ein großes Potenzial, neue saubere Energiedrehkreuze für integrierte Energiesysteme, Wasserstoff und andere kohlenstoffarme Kraftstoffe sowie Erprobungsorte für die Wiederverwendung von Abfällen und die Kreislaufwirtschaft zu werden. Vor uns liegen mehrere wichtige Aufgaben. Es ist von entscheidender Bedeutung, die positiven Entwicklungen des europäischen Meeressektors zu stärken und Wege zu finden, um eine bessere Vernetzung zwischen den europäischen Meeresbecken einerseits und den Meeresbecken mit dem übrigen TEN-V andererseits zu schaffen.

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(1) Konferenz der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung (UNCTAD)
(2) Konferenz der Vereinten Nationen über Handel und Entwicklung (UNCTAD)
(3) Eurostat
(4) Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs: COVID-19 – Auswirkungen auf die Schifffahrt (März 2021)
(5) Europäische Kommission, 3. Januar 2020: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_19_6837
(6) Europäische Kommission, Gestaltung der künftigen Politik des Europäischen Meeresraums. Meeresautobahnen, Detaillierter Umsetzungsplan des Europäischen Koordinators, Juni 2020, https://ec.europa.eu/transport/sites/default/files/2020-mos-dip.pdf

Zur Person:

Bundesminister a. D. Kurt Bodewig ist Professor für Verkehrslogistik an der Hochschule Osnabrück. Er hat ergänzend zur Lehre in Osnabrück auch als Gastprofessor am Programm Internationales Logistikmanagement in China (LOGinCHINA) an der Universität Hefei (VR China) mitgewirkt. Er ist Ehrenprofessor der Hefei Universität und berät die Stadt Hefei zudem in Fragen der Verkehrssicherheit. Als Staatssekretär und später als Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnen im Kabinett BK Schröder (2000-2002) hat er eine Reihe von Verkehrs- und wohnungspolitischen Programmen (wie die Einführung LKW-Maut, erster National Radverkehrsplan, erstes integriertes Verkehrssicherheitsprogramm, Stadtumbauprogramm Ost u.a.) auf den Weg gebracht. Von 2007-2013 war er Maritimer Botschafter der DG Mare in Deutschland, von 2014 bis heute ist er Europäischer Koordinator des TEN-T-Netzes der EU-Kommission (DG Move). Er war von 1998 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestag.